Drei gefangene Terroristen, eine Lüge und der Beginn der Vertuschung
Der Tag nach dem Überfall auf die israelische Nationalmannschaft: Es herrscht eine absonderliche Stimmung. Die Olympia-Verantwortlichen mühen sich um Normalität. Der Pulverdampf in Fürstenfeldbruck ist kaum verzogen, da steht schon fest, dass die Spiele weitergeben sollen. Die Münchner Polizei verfasst in Rekordzeit ein Papier, um sich zu bescheinigen, alles richtig gemacht zu haben. Und die drei verhafteten Terroristen kommen in Untersuchungshaft – allerdings nur für 54 Tage.
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Mein Name ist Christoph Lemmer und ich bin Investigativ-Journalist. In der Vergangenheit habe über den NSU-Prozess für die Nachrichtenagentur dpa berichtet und für die ANTENNE BAYERN mehrere große Podcasts produziert, darunter einen über den Anschlag auf das Olympia-Einkaufszentrum und einen preisgekrönten über den Fall Peggy und ein falsches Mordurteil. In diesem Podcast der ANTENNE BAYERN GROUP öffnen wir 50 Jahre nach dem Olympia-Attentat in München gemeinsam die „Geheimakte: 1972
Christoph Lemmer
Es ist nicht vorbei. Nur die Geiselnahme ist vorbei. Die israelischen Geiseln sind tot, außerdem fünf der acht Terroristen. Gleich am frühen Morgen des 6. September beginnt die Geschichte nach der Geschichte. Und die ist nicht minder spannend und skandalös.
Von der Bundesregierung bis zur Münchner Stadtverwaltung hieß es stets: Keine deutsche Stelle auf keiner Ebene trage Verantwortung oder gar Schuld an dem Überfall und dem tödlichen Ausgang. Aber diese Sicht ist nach Durchsicht Tausender Aktenseiten nicht haltbar. Wir haben in den früheren Episoden viele Details benannt.
Stattdessen hat die Münchner Polizeiführung schon am 6. September Zeit gefunden, eine Legende zu stricken, um jede Verantwortung von sich zu weisen.
Sie ist auf mehreren Schreibmaschinenseiten niedergeschrieben. Im Briefkopf steht der „Polizeiführungsstab München“. Das Dokument ist als „streng vertraulich“ bezeichnet.
Darin heißt es, die Polizei habe aufgrund der Lage nur drei Optionen gehabt, und zwar diese:
- Die Stürmung des von den Terroristen besetzten Gebäudes Nr. 31 im Olympischen Dorf. Diese Maßnahme wurde verworfen, weil sie das Leben der Geiseln nicht gerettet, die Verluste auf Seiten der Polizei wesentlich erhöht und darüber hinaus das Leben zahlreicher Sportler (darunter das der DDR-Mannschaft) und vieler Unbeteiligter im Höchstmaß gefährdet hätte.
- Das Stellen der Täter im Basement. Diese Möglichkeit, entsprechende polizeiliche Maßnahmen, waren vorbereitet, konnte nicht realisiert werden, weil sich die Täter nach Inaugenscheinnahme der Örtlichkeiten weigerten, das Gebäude mit den Geiseln zu Fuß zu verlassen.
- Somit verblieb nur die letzte Alternative, Täter und Geiseln mit dem Hubschrauber zum Fliegerhorst Fürstenfeldbruck zu verbringen und die Aktion dort durchzuführen. Diese Örtlichkeit wurde deshalb gewählt, weil sie der Polizei alle taktischen Vorteile bot. Eine Gefährdung Außenstehender war nicht zu befürchten, die Portierung der Schützen in taktisch günstigen Positionen war gut vorzubereiten.
Tatsächlich war aber gar nichts vorbereitet. Die Polizei flog nur fünf Scharfschützen ein, weil sie dachte, die Terroristen seien auch nur zu fünft. Die Scharfschützen flogen erst in letzter Minute ein und hatten keine Zeit, sich Positionen mit guter Sicht und freiem Schussfeld zu suchen. Funkgeräte fehlten – keiner der Scharfschützen hatte eines. Es herrschte pures Chaos.
Die Polizei hatte es nicht einmal geschafft, Panzerwagen – im polizeideutsch_ Sonderwagen – auf den Flugplatz zu bringen, als sie gebraucht wurden. Die trafen erst mit Verspätung ein. Die Gründe dafür finden sich auch in dem Papier, und man mag sie kaum glauben.
Der Einsatz von Sonderwagen hätte möglicherweise polizeitaktische Vorteile gebracht, wenngleich er in der Anwendung nichts geändert hätte. Durch die permanent sich verändernde Lage und die bis zur Schlussphase herrschende Ungewissheit, wo es zur Auseinandersetzung mit den Guerillas kommen würde, erlaubte deren Verlegung nach Fürstenfeldbruck jedoch erst im letzten Augenblick. Dass die Sonderwagen darüber hinaus in einen Verkehrsstau kamen, verzögerte deren Eintreffen noch einmal.
Die Panzerwagen steckten im Stau fest, als sie in einer echten Notlage benötigt wurden – so war es tatsächlich.
Und schließlich das Resümee: Eine Mischung aus Zurückweisen und Abschieben von Verantwortung auf andere Instanzen.
Ein Vorwurf mangelnder Sicherheitsvorkehrungen im Olympischen Dorf ist nicht berechtigt. Am 24. und 25.8.1972 wurde die Sicherheitsmaßnahmen von Kriminaldirektor Mehler, LKA, mit dem Attaché des israelischen NOK, Dr. Kranz, zu dessen Zufriedenheit abgesprochen und bei einer Ortsbesichtigung festgelegt. Gleiches erfolgte im Benehmen mit dem Ordnungsdienst.
Die künftigen Sicherheitsmaßnahmen erfolgen nach Wunsch der Verantwortlichen des israelischen und ägyptischen NOKs.
Eine absolute Kontrolle des Olympischen Dorfes mit dem dort besonders pulsierenden Verkehr – 12.000 Bewohner und einige tausend Besuchern – ist ausgeschlossen.
Um dieses Papier noch einmal zeitlich einzuordnen: Es entstand noch an dem Tag, am dem die letzten der Geiseln ermordet wurden, am 6. September 1972. Und die Grundlinie seiner Argumentation zog sich über all die fünfzig Jahre bis heute hin.