«Lasst den in Ruhe!» Zverev baut Djokovic nach Drama auf
Nach dem ersten Satz ist plötzlich Schluss - und Alexander Zverev im Finale der Australian Open. Der verletzte Novak Djokovic gibt auf. Zverev zeigt sich einfühlsam, aber auch bereit für den Titel.
Melbourne (dpa) - Auf den dramatischen Finaleinzug durch die Aufgabe seines verletzten Rivalen Novak Djokovic reagierte Alexander Zverev im Stile eines wahren Sportsmanns. Zuerst tröstete der deutsche Tennisstar den serbischen Rekordchampion auf dem Platz. Dann forderte er das Publikum zu mehr Fairness auf. Und schließlich hielt er ein flammendes Plädoyer für den ausgebuhten 24-maligen Grand-Slam-Turniergewinner.
«Alle haben Rafa geliebt, alle haben Roger geliebt», sagte Zverev mit Verweis auf die bereits zurückgetretenen Tennis-Ikonen Rafael Nadal und Roger Federer. «Irgendwann müssen Leute auch mal verstehen, was dieser Mann geleistet hat und was dieser Mann diesem Sport gebracht hat.»
Für ihn sei es «unverständlich», dass einige Fans in der Rod Laver Arena Djokovic ausgebuht hatten, weil dieser im Halbfinale der Australian Open nach dem mit 5:7 verlorenen Tiebreak im ersten Satz (6:7) verletzt aufgegeben hatte. «Der Herr ist 37 Jahre alt! Das darf man nicht vergessen. Leute mit 37 können teilweise aus dem Bett nicht aufstehen», sagte Zverev und appellierte: «Lasst den mal in Ruhe! Der hat genug geleistet.»
Zverev mit Erinnerungen an Horror-Verletzung
Der 27-Jährige reagierte auch deshalb so mitfühlend, weil er sich sehr gut in Djokovic hineinversetzen konnte. Im Halbfinale der French Open 2022 gegen Spaniens Sandplatzkönig Nadal war er böse umgeknickt und hatte ebenfalls aufgeben müssen. «So ist das Leben, so ist der Sport», sagte Zverev. «Es geht weiter.»
In Melbourne aber nur noch für ihn. Zverev greift in seinem dritten Grand-Slam-Finale am Sonntag nach dem ersehnten ersten Titel bei einem der vier Major-Turniere. Er sei «bereit dafür», sagte der Olympiasieger von 2021. Seine zwei bisherigen Endspiele auf der Grand-Slam-Bühne bei den US Open 2020 und den French Open im Vorjahr hat er verloren.
«Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich mal ein bisschen Glück in einem Finale habe», sagte Zverev. Sein Gegner wird im zweiten Halbfinale zwischen dem italienischen Weltranglistenersten Jannik Sinner und US-Profi Ben Shelton ermittelt.
Djokovic spricht von Muskelriss
Klar ist: Djokovic wird Zverev die Daumen drücken. «Er verdient seinen ersten Grand-Slam-Titel. Ich werde ihn anfeuern, hoffentlich kann er es schaffen», sagte er. Diese Worte würden ihm «sehr viel» bedeuten, gab die deutsche Nummer eins zu: «Ich bewundere und respektiere Novak sehr.»
Djokovic spielte nach eigener Aussage mit einem «Riss des Muskels», den er sich bei seinem Viertelfinalsieg gegen den Spanier Carlos Alcaraz am linken Oberschenkel zugezogen hatte. Er habe bis etwa eine Stunde vor dem Match gegen Zverev keinen Ball geschlagen. «Gegen Ende des ersten Satzes hatte ich einfach immer mehr Schmerzen. Es war, denke ich, im Moment zu viel für mich», sagte der zehnmalige Australian-Open-Gewinner.
«Ich bin auch ein bisschen schockiert», sagte Eurosport-Experte Boris Becker, der Djokovic früher trainiert hat. «So ist der Sport, das ist das Brutale.» Er hoffe sehr, dass Djokovic seine Karriere nicht beendet. Es sei zwar nicht ausgeschlossen, dass er nicht mehr nach Melbourne zurückkommen werde, erklärte Djokovic. Er betonte aber auch: «Ich will weitermachen.»
Unmittelbar nach der Aufgabe hatte Zverev den Serben in die Arme genommen und ihm aufbauende Worte ins Ohr geflüstert. Danach richtete er einen Appell an die Zuschauer, die ihren Unmut über das frühe Ende der Partie nach 81 Minuten kundgetan hatten: «Bitte buht keinen Spieler aus, wenn er wegen einer Verletzung aufgeben muss.» Schließlich verließ Zverev mit einer fast entschuldigenden Geste und ohne ein Lächeln den Platz.
Becker gibt Zverev einen Titel-Tipp
Auch danach gab es - zumindest öffentlich - keine Jubelgesten des Hamburgers und seines Teams. Diese Zurückhaltung gefällt Becker. «Es ist gut, dass sie sich nicht zu sehr in den Armen liegen und das Finale schon feiern», sagte er. Der sechsmalige Grand-Slam-Turniergewinner gab Zverev im Gespräch einen Titel-Tipp: «Einfach den Rhythmus so weitermachen wie bisher, du bist auf einem sehr guten Weg.»
Auch gegen Zverev trug Djokovic einen weißen Verband, zwischendurch beugte er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Schläger. Zudem legte er sich früh mit seiner Box um Ex-Profi Andy Murray als Supercoach an. «Er hat sich vielleicht etwas langsamer bewegt zwischen den Ballwechseln», beschrieb Zverev seine Beobachtungen. Das plötzliche Ende schien dann auch ihn zu überraschen.